Es zwickt und zwackt noch ein wenig in der Magengegend und die Lider lassen sich noch nicht wieder auf volle Sicht hochklappen. Der Post-Festival Blues kam in diesem Jahr mit einem Tag Verspätung, dafür aber gründlich, und er gibt den Blick auf eine tolle Zeit, eine Menge großartige Musik und all die vielen schönen Begegnungen an vier Tagen Reeperbahn Festival nur langsam wieder frei. Zehn Paar Ohren müsste man haben, ein paar Köpfe und Beine zusätzlich, um sich besser aufteilen zu können zwischen Musik, Panels, Clubs, Networking, Musik, Ausruhen, Feiern und Musik.
Nachfolgend lest und hört ihr nun eine Auswahl meiner Highlights des Reeperbahn Festivals 2015. Notiz an mich: Nicht alles auf einzelne, vorangehörte Songs setzen – die Live-Umsetzung kann enorm enttäuschen (Vadim Verney) oder unerwartet begeistern (Alex Vargas) – und unbedingt immer wieder von den selbstgesetzten Plänen abbringen lassen. Weitere Erkenntnisse: Die Finnen haben den weltbesten Gin Tonic, die Skandinavier immer wieder die bessere Musik und Klaus Fiehe immer noch kein mobiles Telefon.
Mirel Wagner
Ich wünsche mich in eine kleine, dunkle, meinetwegen sogar verrauchte Kneipe, um mich von den hypnotisch-gleichförmigen Songs der Finnin mit den schönsten Haaren des Abends aus der Reeperbahn Festival-Nacht ins Bett schicken zu lassen, schwer, müde und ganz ruhig. Stattdessen knallen im Mojo Club oben die Türen (die gehen auch leise, wir haben’s probiert!!!) und können unten viele Leute nicht mal einen Augenblick ihre Klappe halten, um zuzuhören. Und so bleibt uns kaum eine Alternative, als den übrig gebliebenen Ärger auf der After Show Party gründlich wegzuspülen.
Elias
Schon wieder so ein Jungspund, gerade einmal 19 Jahre alt ist Elias aus Schweden. Am N-Joy Reeperbus lassen er, seine Background-Sängerinnen und die Bandkollegen uns ganz schön zappeln, dabei müssen wir doch weiter, weil der nächste Termin drängt und die Schlange zu Ray’s Reeperbahn Revue immer länger wird. Und dann setzt Elias an und alles ist egal, denn es zählt nur noch diese Stimme; Mit großen Augen staunen wir uns eine Gänsehaut. Wow! Warner und Neuland sind schon dran, eine EP mit dem Song Revolution in verschiedenen Versionen bereits zum Download erhältlich. Demnächst also ganz gewiss auch auf einer Bühne in eurer Stadt.
James Gruntz
Zwischen Schweizer Raclette (ja, das kann man auch mit Brot essen!) und Weißwein ließ auf einmal diese Stimme aufhorchen. Der Schweizer James Gruntz (für seinen Namen kann ja kaum einer was) soll in seinem Heimatland schon reichlich bekannt und umjubelt sein. Das leuchtet bei einem solch leichtfüßigen und mit Freude gespielten Pop-Sound absolut ein.
Monophona
Der Musikexport Luxemburg hatte auch in diesem Jahr wieder in den Kaiserkeller geladen und präsentierte neben tollen Networking-Bedingungen (lies: Häppchen und Gläschen) eine Band, auf die ich schon seit Februar ein Auge geworfen habe. Monophona sind auf der Bühne noch ein bisschen schüchtern und damit ebenso sympathisch wie ihre düstere, trippy Musik toll ist. Nachschlag, bitte.
Das aktuelle Album Blackonblack erschien Anfang des Jahres über Kapitän Platte.
Half Moon Run
So richtig scheinen die Kanadier nichts über sich und ihr neues Album preisgeben zu wollen und lassen Ray Cokes mit knappen ja/nein-Antworten auflaufen, der daraufhin verspricht, sich bis nächstes Jahr bessere Fragen zu überlegen. Devon und Connor geben sich überrascht über die der Presseinfo entnommenen Themen, mit denen Cokes versucht, wenigstens sowas ähnliches wie ein Gespräch zusammenzuklamüsern. Na dann mal lieber nicht zu viel (oder alles Mögliche?) in die ähnlich kryptischen neuen Songs auf Sun Leads Me On hineininterpretieren. Die Töne der Akustik-Duo-Versionen in Ray’s Reeperbahn Revue klimpern ein wenig verquer durch das Schmidt Theater. Später am Abend fahren Half Moon Run in der gut gefüllten Großen Freiheit 36 in voller Viererbesetzung auf und zeigen, dass die neuen Songs vor allem live so richtig Farbe bekommen. Trotz zweier Schlagzeuge schaffen sie es an diesem Abend für mich aber nicht, die dynamische, perkussive Magie früherer Shows zu halten. Fan bleibe ich trotz alledem.
Agent Fresco
Mein allererster Besuch im Rock Café St. Pauli ist bis auf den letzten Platz voll, warm und laut. Agent Fresco schließen meinen Reeperbahn Festival Freitag mit einer Handvoll Songs vom neuen Album Destrier und einigen Highlights vom Debüt A Long Time Listening. Sänger Anor Dan packt mit seinen gewohnt herzlich-emotionalen Erläuterungen zu Songs und Lebensereignissen eine (fast zu) dicke Schippe Drama drauf und auch wenn die Musik des isländischen Quartetts laut meiner Emo Hardcore-Auskenner Begleiterin nicht besonders außergewöhnlich ist, ich liebe diese Band und fühle mich vorzüglich bespaßt. Am 28.11. könnt ihr sie im Beatpol in Dresden sehen.
Josef Salvat
Josef Salvats Version von Rihannas Hit Diamonds dürftet ihr Fernsehgucker alle aus der Sony-Werbung kennen. Eindringlich vorgewarnt vorm anstrengenden Falsettgesang des Australiers, war in der Samstagmittagssonne beim ersten Bier vorm N-Joy Reeperbus dann alles halb schlimm. Um ehrlich zu sein, sogar ziemlich schön. Ob das nun am abgespeckten Setting lag, an der Sonne, am Bier oder dem bezaubernd schrägen Applaus-Timing unserer Sitznachbarin? Wer weiß das schon …
Alex Vargas
Von seinem Song Solid Ground völlig hingerissen, konnte ich beim Weiterhören mit Giving Up The Ghost so gar nichts anfangen. Deswegen hat es der in London lebende dänisch-uruguayische Musiker auch nicht auf meine Must-See-Liste geschafft. Die letzten beiden Songs seines zufällig noch erwischten Konzerts im Indra haben mich allerdings restlos überzeugt: Von dem wollen und werden wir noch viel hören! Ein bisschen Geduld scheint es dafür aber noch zu brauchen, ich finde überall nur einzelne Songs und viel zu wenig Infos.
Lydmor & Bon Homme
Was letztes Jahr auf dem SPOT Festival als Doppelkonzert begann, hat sich inzwischen zum handfesten Duoprojekt mit Hitpotential verwachsen: Zwischen ihren unzähligen anderen Projekten (Alle Farben, Arsenal, Trust Tour, Solo-Album…) hat sich Jenny „Lydmor“ Rossander mit Who Made Whos Tomas Høffding als Lydmor & Bon Homme zusammengefunden, um funkelnd-traumtänzerischen Electropop auf Bühnen und Tanzflächen zu zelebrieren. Mit Emil Vissing Christensen (Reptile Youth u.a.) haben sich die beiden zur Deutschlandpremiere im Indra (und hoffentlich auch darüber hinaus) einen dritten Musiker zur Unterstützung geholt und das nigelnagelneue Set zum allerersten Mal in dieser Konstellation gespielt. Ein bisschen holprig vielleicht noch hier und da und in der Songauswahl optimierbar, lebt diese Show wie erwartet von den Entertainerqualitäten der beiden Hauptakteure, von der tollen Harmonie ihrer beiden Stimmen und Jennys intensiven Publikumkontakt. Das Album Seven Dreams of Fire erscheint Anfang November über das Hamburger Label Hfn Music.