Der alte König in seinem Exil

· 26.06.2011 · Keine Kommentare

Sechs Jahre hat sich der 43jährige österreichische Schriftsteller Arno Geiger für das Buch über seinen an Demenz erkrankten Vater Zeit genommen und es vor dessen Tod veröffentlicht, weil er »fand, dass der Vater, wie jeder Mensch, ein Schicksal verdient, das offen bleibt.«

Vielbeachtet, gelobt und für den Preis der Leipziger Buchmesse 2011 nominiert, steht Der alte König in seinem Exil in den Bestseller-Regalen. Denn es liest sich so leicht, dass die erschütternde Realität der Demenzerkrankung fast ein bisschen verschwimmt. Strapazen und Kraftaufwand im Umgang mit dem Kranken werden zwar immer wieder thematisiert, verflüchtigen sich in meinem Gesamteindruck jedoch in eine gewisse Beiläufigkeit.

In Rückblenden trägt Arno Geiger Stück für Stück der Biografie seines Vaters August zusammen und bringt mich damit zum Nachdenken: Wie wenig wissen wir über die Vergangenheit uns nahestehender Menschen, über ihre Beziehungen und Gedanken? Und wie oft erfahren wir erst am Grab eines engen Familienangehörigen Details aus dem Leben des Verstorbenen, nach denen wir nie gefragt haben?

Als August Geiger knapp über 70 ist, erhalten er und seine Familie die Diagnose: Demenz. Erste Anzeichen der Krankheit zeigten sich bereits einige Jahre zuvor.

Mit der Krankheit verändert sich die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Während Arno im Heranwachsen kaum Zugang zu seinem Vater fand, unter dessen Ignoranz litt und sich schließlich damit abfand (»Der Vater war mir während dieser Zeit einfach nicht besonders wichtig und phasenweise egal«), nimmt er sich nun die Zeit, den Vater neu kennenzulernen. Und er findet einen ganz speziellen Weg, seinem Vater zu begegnen und mit der Krankheit umzugehen: Er literarisiert sie.

»ich dachte mir, da haben sich zwei gefunden, ein an Alzheimer erkrankter Mann und ein Schriftsteller.«

Es scheint, als können sich Vater und Sohn darüber intensiv begegnen und so einander näherkommen:

»Augenzwinkernd sagte er: „Du bist mein bester Freund!“«

Die zitierten Gedanken((bruch)stücke) des Vaters werden zum roten Faden, an dem man sich das Buch entlangliest, bis er sich zum Ende hin immer mehr aufdrieselt.

»was ihm einfiel, war oft nicht nur originell, sondern hatte eine Tiefe, bei der ich mir dachte: Warum fällt mir so etwas nicht ein! Ich wunderte mich, wie präzise er sich ausdrückte und wie genau er den richtigen Ton traf und wie geschickt er die Wörter wählte.«

Natürlich liest sich das überaus berührend, stellenweise sogar erheiternd:

»“Hier hast du deinen Hut.“
„Das ist recht und gut. Aber wo ist mein Gehirn?“«

Bewundernswert, wie Arno Geiger es durch diese Art der Auseinandersetzung mit einer so schwierigen Situation schafft, immer wieder Stärke und Hoffnung zu schöpfen und zu vermitteln. Es inspiriert, den eigenen Blick im alltäglichen Umgang mit anderen Menschen zu öffnen, Geduld zu üben und öfter mal etwas genauer hinzuhören. Allerdings ernüchtert sich die schöne Theorie regelmäßig an der Konfrontation mit der eigenen Realität.

Trotzdem – dieses allemal lesenswerte Buch ist eines von denen, die man von Zeit zu Zeit zur Hand nehmen wird, um die darin enthaltenen kleinen Weisheiten aufzufrischen.

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